Theoretischer Hintergrund zum
SSS-V Fragebogen
Die Sensation Seeking-Skalen, Form V (SSS-V) sind eines der am häufigsten eingesetzten Inventare zur Erfassung von Sensation Seeking. Sensation Seeking beschreibt nach Zuckerman (1994) die Tendenz, vielfältige, neue, komplexe und intensive Erfahrungen zu machen und die Bereitschaft, für diese Erfahrungen physische, soziale, legale und finanzielle Risiken einzugehen. Die Sensation Seeking-Skalen, Form V (SSS-V) wurden von Zuckerman, Eysenck und Eysenck (1978), entwickelt und umfassen vier Subskalen, die sich aus jeweils 10 Items im “forced-choice“ Format zusammensetzen:
Die Subskala Gefahr- und Abenteuersuche (Thrill and Adventure Seeking, TAS) beschreibt die Tendenz, sportliche und andere Aktivitäten durchzuführen, die Gefahr oder Geschwindigkeit beinhalten.
Enthemmung (Disinhibition, DIS) erfasst die Tendenz zu sozial und sexuell enthemmtem Verhalten.
Erfahrungssuche (Experience Seeking, ES) beschreibt die Suche von Erfahrungen durch non-konformistischen Lebensstil und Reisen, während die Subskala
Empfänglichkeit für Langeweile (Boredom Susceptibility, BS) eine Abneigung gegen Wiederholungen und Routine erfasst.
Darüber hinaus wird als Summenwert eine Sensation Seeking-Gesamtskala (SSG) gebildet.
Weitere Einzelheiten zur Konstruktion und zu psychometrischen Eigenschaften des SSS-V finden Sie im Artikel "Psychometrische Eigenschaften und Normen einer deutschsprachigen Fassung der Sensation Seeking-Skalen, Form V" von André Beaducel, Alexander Strobel und Burkhard Brocke in der Zeitschrift "Diagnostica", Ausgabe April 2003 (Vol. 49, No. 2, S. 61-72).
Ich nutze den SSS-V Fragebogen im Rahmen meiner Diplomarbeit über riskante Freizeitaktivitäten (genauer: evolutionspsychologische Motive für das Motorradfahren). Nach meiner Arbeitshypothese sollte sich ein Zusammenhang zwischen der Art der ausgeübten Freizeitaktivitäten und der Ausprägung des Traits Sensation Seeking feststellen lassen.
Eine weitere Methode, um einen solchen Zusammenhang nachzuweisen, stellt folgendes Spiel zum Risikowahlverhalten dar.
Der gemeinsame Hintergrund dieser beiden diagnostischen Ansätze bildet die Frage, warum Menschen oder - aber auch andere Lebewesen - riskantes Verhalten bevorzugen, auch wenn es zum Teil gravierende Konsequenzen verheißt oder langfristig zu einem schlechteren Ergebnis als vorsichtigere Strategien führt.
Ein Erklärungsversuch dafür ist evolutionsbio- bzw. evolutionspsychologischer Art und lässt sich letztlich auf die strukturelle Verschiedenartigkeit der Geschlechter zurückführen: Die strategische Entscheidung der Natur für eine sexuelle Vermehrung aufgrund der damit verbundenen Vorteile - die Möglichkeit, ansonsten starre Erbprogramme zu reparieren und vor allem zu variieren - hat sich in einem energetischen Gleichgewicht der Zweigeschlechtlichkeit eingependelt, bei dem das eine Geschlecht, nämlich das weibliche, eine eher ressourcenorientierte, und das andere, männliche Geschlecht, eine eher ökonomische Strategie in der Schlacht um den maximalen Fortpflanzungserfolg eingeschlagen hat (vgl. S. 36, 70 in "Männlich - Weiblich, Ein Naturgesetz und seine Folgen" von Wolfgang Wickler und Uta Seibt). An der Tatsache, dass eine Frau in Ihrem Leben nur maximal 300 fruchtbare Eizellen abrufen kann und damit nur diese begrenzte Zahl an Möglichkeiten hat, um schwanger zu werden, wohingegen der Mann pro Tag 30 bis 50 Millionen Spermien erzeugt (a.a.O.), lässt sich bereits ablesen, welches der beiden Geschlechter "am längeren Hebel" sitzt: Vom Standpunkt der Gene ist der männliche Körper ein "sinkendes Gefangenenschiff", deren einzige Hoffnung darin besteht, sich in einen weiblichen Körper mit einer fruchtbaren Eizelle zu flüchten und so der endgültigen und völligen Auslöschung zu entgehen (vgl. S. 104 in "Die sexuelle Evolution" von Geoffrey F. Miller). Zwar ist der Körper auch für Weibchen ein sinkendes Schiff, aber er hat - anders als die Männchen - fast alles an Bord, um einen neuen Körper und damit sein eigens Fortbestehen zu sichern. Dieses strukturelle Ungleichgewicht führt dazu, dass Weibchen es sich leisten können, wählerisch zu sein, wohingegen Männchen vor dieser weiblichen Auswahl zu bestehen haben.
Doch wie soll man(n) sich gegenüber dem eigentlich starken Geschlecht hervorheben, um für einen Fortpflanzungsakt ausgewählt zu werden und zu welchen Eigenheiten in Physis und Verhalten führt diese dauernde Bewährungssituation des männlichen Geschlechts. Bereits Charles Darwin führte in seiner Abstammung des Menschen aus dem Jahre 1875 die Partnerwahl als psychologischen Prozess dar, der die organische Evolution des Menschen lenkt:
"Wer das Princip der geschlechtlichen Zuchtwahl zugibt, wird zu der merkwürdigen Schlussfolgerung geführt, dass das Cerebralsystem nicht bloss die meisten der jetzt bestehenden Functionen des Körpers reguliert, sonder auch indirect die progressive Entwicklung verschiedener körperlicher Bildungen und gewisser geistiger Eigenschaften beeinflusst hat. Muth, Kampfsucht, Ausdauer, Kraft und Grösse des Körpers, Waffen aller Arten,... Alles ist indirect von dem einen oder dem anderen Geschlechte erlangt worden..."
Einen genialen Hinweis über das Prinzips dieses psychologischen Prozesses hat hundert Jahre später der israelische Biologe Amotz Zahavi mit seiner Theorie des "Handycap-Prinzips" gegeben (a.a.O., S. 78). In Anknüpfung an die 1915 geäußerten Ideen der sich selbst verstärkenden Selektion des Universalgelehrten Ronald Fisher postulierte Zahavi die Ansicht, dass ein Großteil des sexualspezifischen Schmuckes gerade wegen des hohen Aufwandes seiner Ausbildung ein zuverlässiger Fitnessindikator und damit ein erfolgreiches Partnerwahlkriterium für die Weibchen darstellt.
Das könnte nun aber eine sehr plausible Erklärung für sonst scheinbar unerklärbares Risikoverhalten bei Männern sein: Riskantes Verhalten beinhaltet insoweit einen sich selbst begrenzenden Faktor, als das Risiko nicht von jedem unbegrenzt erhöht werden kann - vielmehr können nur die Individuen sehr hohe Risiken lebend überstehen, die über die notwendigen physischen und psychischen Ressourcen verfügen, was vom weiblichen Geschlecht und auch von den männlichen Mitkonkurrenten auch so gesehen wird (vgl. S. 10 in "Risk-taking, Intrasexual Competition, and Homicide" von Martin Daly und Margo Wilson in: "Evolutionary Psychology and Motivation"). Unterstützung findet dieser Erklärungsansatz durch die hohen Geschlechtereffekte, die man bei Risikoverhalten immer wieder findet: So gehen 253 der 293 Sieger der Darwin Awards in der Zeit von 1988 bis 2003 auf das Konto von Männern - das sind 86 %, fast genau der Prozentsatz, den auch Männer unter den Motorradfahrern stellen.
Die Einsicht, dass wahrscheinlich auch das Gehirn letztlich nicht als nützliche Rechenmaschine, sondern vielmehr als "schmückendes Genie" für eine differenziertere Partnerwahl entstanden ist (vgl. S. 176 ff. in "Die sexuelle Evolution" von Geoffrey F. Miller) führt uns zu der Frage, ob nicht letztlich unser gesamtes Verhalten nur einen komplizierten, zeitlich ausdifferenzierten Ausdruck unserer geschlechtlichen Biologie darstellt. Darauf weist etwa auch die unterschiedliche Ausprägung risikoreichen Verhaltens über die gesamte Lebensspanne des Menschen hin (vgl. S. 12 in "Risk-taking, Intrasexual Competition, and Homicide" von Martin Daly und Margo Wilson).
Um zum Ausgangspunkt unserer Erörterungen zurückzukommen und gleichzeitig eine Antwort auf die letzte Frage zu finden, soll hier auch einmal Zuckerman, der Verfasser des SSS-V Fragebogens zu Wort kommen. Er nahm 1994 an, dass Sensation Seeking eine stabile Persönlichkeitseigenschaft darstellt, die in sehr stark mit der individuell unterschiedlichen Ausgestaltung der Neuromembranphysiologie korreliert. Auch neue medizinische Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass unser vormals autonom gedachtes Gehirn in seiner Funktionsweise stark von geschlechtsspezifischen Parametern abhängt: So wurde in einer Studie eine Veränderung des Gleichgewichts in der Belohnungs- und Bestrafungssensibilität durch Verabreichung von Testosteron nachgewiesen: Probanden wurden gegenüber Bestrafung unsensibel bei gleichzeitiger Erhöhung der Belohnungsabhängigkeit - eine Besonderheit, die auch bei Psychopathen zu beobachten ist. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang der klinische Nachweis einer Korrelation zwischen der Konzentration an Noradrenalin, Adrenalin und Testosteron im Blut von 74 Probanden und deren Ausprägung an Sensation Seeking. Diese medizinischen Daten lassen folgenden Zusammenhang vermuten:
Eching, 02.11.2005